Mit Stilus und Fineliner
Auf den Spuren unserer Schreibschriften

 

Wer heute nach Menschen sucht, die sich mit Handschrift beschäftigen oder die sich zumindest dafür interessieren, wird in jeder Stadt schnell fündig. Fast jede VHS bietet inzwischen Kurse in Handlettering oder Kalligrafie an. Viele Papeterien veranstalten eigene Workshops in diesem Bereich. Studien bestätigen: Die meisten Menschen, die befragt wurden, fanden Handschrift wichtig.

 

Die Alltagsrealität sieht meist etwas anders aus. Wir tippen weit mehr auf Tastaturen oder smarten Displays, als dass wir die eigene Handschrift nutzen. Selbst in den Schulen wird das Erlernen einer verbundenen Schreibschrift zum Auslaufmodell.

 

Umso erstaunlicher ist es, dass sich eine junge Kommunikationsdesignerin über ein ganzes Buch hinweg mit Schreibschriften, ihren Ausprägungen und ihrer Herkunft beschäftigt. Herausgekommen ist dabei ein wunderschön gestalteter und illustrierter Band mit dem schlichten Titel »Schreibschriften«. Text, Illustrationen und Layout stammen aus einer Hand. Das tut dem Buch im Blick auf das Erscheinungsbild gut.

 

Schöne Illustrationen

Wer bei einer 28jährigen Illustratorin nun wildes Design und grelle Schriften und Farben vermutet, liegt falsch: Der Haupttext ist in einer angenehmen Schrift mit leichten Serifen gehalten, die Erläuterungen in einer leicht verspielten Kursiv-Schrift, die Abbildungsbeschreibungen in der gleichen Schrift in roter Farbe. Es handelt sich also um ein durchaus der Tradition verpflichtetes Layout, das dennoch leicht und modern daherkommt.

 

Den weitaus größten Anteil des Buches machen Illustrationen und Abbildungen aus. Es handelt sich dabei um Darstellungen von Schreibgeräten, Schreibmaterialien, Schriftproben und vor allem Dokumenten aus den unterschiedlichen Zeiten von der (römischen) Antike über Mittelalter und Renaissance bis in die Gegenwart.

 

Europäische Schriften im Zentrum

Damit ist aber auch klar, dass das Buch sich beschränkt auf die Schriften (West-)Europas und der westlichen Welt. Kleinere Hinweise gibt es zur arabischen Schrift und zu den Vorläuferschriften der lateinischen Schriften. Eine solche (Selbst-)Beschränkung ist sinnvoll, grenzt sie doch zum einen den Stoff so ein, dass der Umfang des Buches nicht ausufert und zum andern begrenzt sich das Buch damit auf jene Schriften, die viele Leserinnen und Leser heute noch interessieren dürften, vor allem wenn sie selbst mit Schriften arbeiten oder spielen.

 

Persönlicher Schreibstil

Dazu passt der zum Teil sehr persönliche Schreibstil der Autorin, die sich mit in das Buch einbringt, erzählt, woher ihr eigenes Interesse an Schriften kommt und bisweilen den Leser oder die Leserin direkt anspricht: »Denken Sie an…« oder »Wie sie sicher schon vermutet haben…«.. Ein solcher Stil, der einerseits leicht wirkt, birgt andererseits auch die Gefahr, zu sehr ins Umgangssprachliche zu rutschen. Damit gehen dann eben grammatische Unrichtigkeiten einher. Ein Beispiel: »Teil seines Förderprogramm (Karl d. Große MK) waren die Wissenschaft…sowie das Problem der Schriftlichkeit.« (65) So redet man wohl im Alltag, aber ein Problem ist sicher nicht Teil eines Förderprogramms. Ähnliches gilt für die Verwechslung von »Mystisch« und «Mythisch«. Auch das geschieht umgangssprachlich immer wieder, doch ist Mythos eine erzählende Verortung des Menschen in Welt und Geschichte und Mystik eine religiös gefärbte Form psychischer Selbstaufklärung. Hier hätte jedenfalls ein starkes Lektorat gutgetan.

 

 

 

Sobald es um die Schriften selbst geht, ist die Autorin in ihrem Element. Man merkt deutlich: Da sind eine starke Sympathie und noch mehr Wissen und Recherche im Spiel. Wenn es jedoch um die mythischen Herleitungen der griechischen Schrift geht, dann rumpelt es doch etwas: Dass z.B. die Musen den Kretern das Alphabet geschenkt hätten, findet sich allein bei Diodor, einem griechischen Geschichtsschreiber des späten Hellenismus, der den Kretern zugleich die traditionelle Lügenhaftigkeit attestiert. Eigentlich aber hatten die Griechen ein sehr pragmatisches Verhältnis zu Schrift und leugneten auch nicht, dass sie diese Schriftzeichen nicht selbst erfunden hatten. »Phönizische Zeichen« nannten sie ihre Schrift.
Und auch die römische, lateinische Schrift stammt von den (West-)Griechen, denn von dort hatten sie die Etrusker.

 

In Abbildungen/Illustrationen zeigt die Autorin ganz unterschiedliche Schriften, Keilschrift und Hieroglyphen, griechische Schrift, Runen, phönizische Schriftzeichen usw. Es wäre schön gewesen, wäre in den Eingangskapiteln auch deutlich geworden, dass unsere alphabetische Schrift ihren Ursprung weit vor den sog. »Dark Ages«, den Dunklen Jahrhunderten (ca. 1250-900 v. Chr.) hat und aus der mittleren Bronzezeit (ca. 1500) in Palästina stammt, dass die Phönizier, die diese Zeit einigermaßen unbeschadet überstanden haben, damit eine sehr alte Tradition erhielten, die bis heute wirksam ist.

 

Unbedingt lesenswert

Angesichts der Schönheit des Buches und der vielfältigen Informationen, die sich dort finden, sind das Marginalien. Solche Anmerkungen hätten das Staunen über ein Kulturgut und eine Kulturtechnik verstärkt, die wir bis heute selbstverständlich nutzen und die jedes Kind neu mühsam erlernen muss.

 

Wer Schriften und Schreiben liebt, möge unbedingt zu diesem Buch greifen. Und auch als Geschenk eignet sich dieser fadengeheftete Band sehr.

 

Michael Krämer

 

Lena Zeise, Schreibschriften. Eine illustrierte Kulturgeschichte, Bern (Haupt) 2020, 207 Seiten, € 36,00