Warum haben Menschen bloß angefanngen zu schreiben?

Menschenähnliche Wesen bevölkerten Teile Afrikas bereits vor weit mehr als zwei Millionen Jahren. Sie unterschieden sich von den affenähnlichen Wesen durch aufrechten Gang und die zunehmende Unfähigkeit im Wald und auf Bäumen zu leben. Ihre Hände wurden feingliedriger, ihr Kiefer kleiner und die Zähne verkleinerten sich ebenfalls zunehmend. Sie lebten in der Steppe als Sammler, seltener als Jäger, hausten wohl zum Teil in Höhlen. Die Gruppen waren noch überschaubar. Für Kontakte untereinander reichten Berührungen und Gesten. Kommunikation geht auch ohne Sprache. Mimik, Gestik und Ausrufe reichen vielfach aus. Auch Tiere kommunizieren teilweise derart. Damit aus den Menschenähnlichen Menschen werden konnten, bedurfte es eines weiteren Schrittes. Dieser Schritt ergab sich aus zwei Notwendigkeiten:

 

a) Die Menschenähnlichen waren relativ schwache Wesen. Sie verloren zwar zunehmend ihr Fell, wurden also zu Nacktwesen, was für lange Läufe in der Steppe durchaus nützlich war (Transpiration). Aber ihre Hände waren ungeeignet zum Graben, ihre Zähne konnten die großen Markknochen der gefundenen Tiere nicht knacken. Es musste Werkzeug her. Werkzeuge benutzen durchaus auch andere Tiere. Aber sie eignen sich diese nicht an. Seit etwa 2 Millionen Jahre hingegen benutzen Menschen Werkzeuge, die sie nicht einfach nur vom Boden auflesen, sondern offensichtlich mehrfach gebrauchen und mit sich führen. Statt also die Faust zum Hammer werden zu lassen und die Zähne zu schärfen und zu vergrößern, exteriorisieren diese Wesen notwendige Fähigkeiten. Das geht bis heute so: Ochsen- , Esel- und Pferdenutzung ist eine solche Exteriorisierung von Kraft, Öl, Benzin und Elektrizität exteriorisieren Bewegungsenergie und gerade eben versuchen wir unser letztes bewusst genutztes Organ zu exteriorisieren: Das Gehirn – im Zeichen der Digitalisierung.

 

Solche Veräußerlichungen bringen es mit sich, dass der Mensch sich nicht mehr als Teil, sondern zunehmend als Gegenüber seiner Umgebung erfährt, die damit für ihn zur nutzbaren Ressource wird. Das heißt: Es findet eine Differenzierung zwischen Ich und Anders statt. Anders sind in diesem Zusammenhang nicht nur Pflanzen, Tiere und Steine, sondern auch andere Menschen.

 

b) Wo Ich nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil von etwas Ganzem ist, wo sich zudem die Gruppengrößen offensichtlich auf teilweise mehr als 30 Individuen gesteigert haben, braucht es aber eine zunehmenden Vergewisserung der Zusammengehörigkeit. Ab etwa 20 bis 25 Individuen lässt sich eine solche Zusammengehörigkeit nicht mehr rein körperlich über Lausen, Kraulen und Berühren herstellen.

 

Nun gab es offensichtlich bereits über das zeigende Rufen ein Mittel, das auch eine größere Gruppe wahrnehmen kann: »Achtung, ein Leopard« oder »Leise, eine lahme Gazelle« oder auch »Hmm, lecker Früchte«. Anthropologen gehen inzwischen davon aus, dass die Entwicklung der Sprache für den Menschen der Ersatz für das Lausen gewesen sei. So konnte man sich offensichtlich auch eines gegenseitigen Wohlwollens und damit der Gemeinsamkeit versichern. Sprache hat ihre Herkunft also im Miteinander, in der Kommunikation. Das ist ihr bis heute anzumerken. Sie muss eben nicht immer höchsten Sinn transportieren.

 

Allerdings führen solche Entdeckungen Menschen immer auch auf neue und gar nicht vorhergesehene Spuren. Sie nutzen also solche neuen Kulturtechniken nicht eindimensional, sondern es ergeben sich immer neue Nutzungsmöglichkeiten: Die Nutzung eines Choppers, der nicht groß bearbeitet wurde, kann ich durchaus noch gestisch zeigen und rein mimetisch erlernen. Bei einem zweiseitigen Schaber, der hergestellt wird mit etwa fünfzehn bis zwanzig exakten Schlägen pro Seite, der geschärft werden muss, ist das schon nicht mehr der Fall, jedenfalls dann nicht, wenn man Fehlschläge (im wörtlichen Sinne) für die Zukunft vermeiden will. Gleichzeitig muss der Werkzeug erzeugende Mensch aber auch bereits eine Vorstellung davon haben, was aus dem Stück Stein, das er gefunden hat, werden kann und soll. Er muss also perspektivisch in die Zukunft vorgreifen und einen Sinn für Kausalitäten bzw. eine Zweckgerichtetheit entwickeln.

 

Und dann lassen sich mit einer solchen Sprache plötzlich nicht nur Zuneigung und Gemeinsamkeit artikulieren, Hinweise und Anweisungen geben, sondern es lässt sich auch erzählen, wie es dazu kam, dass… Und dieses Erzählen hat den Menschen offensichtlich Spaß gemacht. Jedenfalls haben sie bis heute nicht damit aufgehört. Auch das Erzählen hat ja einen gemeinschaftsstiftenden Charakter: Ich erzähle nur, wenn mir jemand zuhört. Und wer zuhört und die gleichen Geschichten kennt, der gehört dann auch dazu (vgl. etwa die Entstehung neuer Heldenmythen in amerikanischen Ghettokulturen).

 

Niemand weiß, wie lange Menschen die Sprache schon zum Erzählen nutzen. Dass die Neandertaler es taten, ist aufgrund neuerer Entdeckung von Artefakten und der Bestattungskultur der Neandertaler wahrscheinlich. Auch wäre sonst kaum eine genetische Verbindung zum Homo Sapiens zustande gekommen. Dass der Homo Sapiens seit knapp 100.000 Jahren erzählt, ist jedenfalls sicher. Und er erzählt nicht nur, er macht Musik, schafft Kunstwerke, spielt Spiele und wenn sich diese Menschen nicht gerade gegenseitig totschlagen oder die Nahrung rauben, scheint ihr höchstes Bestreben zu sein, sich des Lebens zu freuen und das auch noch möglichst sinnvoll zu finden.

 

Die Menschen konnten also sprechen, erzählen, es wurden Mythen erfunden, Religionen haben sich entwickelt: All das diente der Vergewisserung der eigenen Existenz in einer unsicheren Welt, es trug dazu bei, dass sich größere Gemeinschaften, Kulturen bildeten, gab den Menschen Antwort auf unbeantwortbare Fragen, etwa auf die immer wieder neu gestellte Frage, wozu eigentlich das Leben gut ist und was aus Menschen wird, wenn sie nicht mehr leben. Erzählen nimmt zwar den Tod nicht aus der Welt, aber es schützt z.B. vor der Angst vor den Toten.

 

Das Sprechen und Erzählen förderte das Erinnern, das Erinnern befeuerte Zukunftsvisionen. Und beides, das Erinnern wie die Hoffnung und die Visionen, hat mit realen Fakten nur begrenzt zu tun, sonst wären nicht immer wieder in der Geschichte Überschreitungen des Vorhandenen möglich gewesen.

 

Das alles war keineswegs geplant: Niemand hat seinerzeit, als die Sprache gefunden oder vielleicht auch erfunden wurde, daran gedacht, was daraus werden würde: Dass man Tratsch und Quatsch erzählen würde, dass Paradiesträume entstehen würden und haarsträubende Abenteuergeschichten, dass die Sprache die Erfahrungen der Menschen aufnehmen, sich entsprechend wandeln und dadurch die in diese Sprachgemeinschaft Hineinwachsenden prägen würde.

 

Warum nur wurde dann auch noch die Schrift erfunden? Vermutlich hat auch dabei niemand an die Milliarden Schülerinnen und Schüler gedacht, die sich mit dieser neuen Technik würden plagen müssen. Geschweige denn, dass im Blick gewesen wäre, was die Menschheit sonst noch mit der Schrift anstellen würde (Relativitätstheorie, Ulysses).

 

Die meisten Menschen heute gehen davon aus, dass Schrift immer etwas mit Sprache, genauer: mit gesprochener Sprache zu tun hat. Das gilt zumindest für die Menschen der westlichen Kulturkreise.