Eine Liebeserklärung ans Schreiben und ans Leben
Doris Dörries Buch »Leben, Schreiben, Atmen«

 

 

 »Eine Einladung zum Schreiben« nennt Doris Dörrie ihr neuestes Buch im Untertitel. Und genau das ist es auch: Kein weiterer Ratgeber, wie ich einen Roman schreibe; auch kein Handbuch literarischen Schreibens.Es handelt sich nicht um den Entwurf einer Schreibschule, wie wir das etwa von Ortheil kennen: Doris Dörrie setzt sich selber dem Schreiben aus, um zu zeigen, was passieren kann, wenn man einfach drauf los schreibt.

 

So ist das Buch in seinen weitesten Teilen ein Stück Autobiographie von Doris Dörrie in Fragmenten. Sie erzählt von ihrer Kindheit, den Eltern, ihrem Studium in den USA, ihrer Freundin N., die sie bis in den Tod begleitet, ihrer chaotische Eheschließung mit einem Mann, den sie bis in den Tod liebt. Es sind immer wieder neue Erinnerungsschübe, die durch Leben mäandern, ausgelöst durch Stichworte, manchmal auch durch eine Einkaufsliste.

 

Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass es nicht um literarisches Schreiben geht. Es ist kein Schreiben, das gefallen will oder soll, niemandem, es ist keine Textproduktion mit dem Ziel der Veröffentlichung, sei es im kleinen Familienkreis, sei es in der großen Öffentlichkeit. Es geht um ein Schreiben um des Schreibens willen und, wie ihr bewusst wird, um des Lebens willen.

 

Mit der Hand schreiben

Dörrie legt Wert darauf, dass mit der Hand geschrieben wird: »Warum mit der Hand schreiben? Weil die Hand wir selbst sind. Ein Computer nicht. Eine Tastatur übersetzt unsere Gedanken, die Hand sind wir selbst, die direkte Verbindung vom Kopf in die Hand ist die Handschrift.« (18). Und so wird dann aus dem Schreibprozess ein Erinnerungsprozess, der seine Worte auf dem Papier findet. Voraussetzung dafür ist nach Dörrie, möglichst wenig nachzudenken über das, was da geschrieben wird – jetzt gerade.

 

Erinnerungen, auch das macht die Autorin deutlich, sind keine Sprachfotographien des Lebens. Im Erinnern verbinden sich Erlebtes, Gehörtes, alte Geschichten, von denen ich weiß, Kindheitsfotos, Familienstories, Märchenhaftes und Katastrophisches zu etwas, das dann wohl Erfahrung heißt. Im Schreiben, das hier automatisch vorgestellt wird, kommt es zu Papier und wird anschaubar. Insofern hat solches Schreiben dann auch therapeutische Funktion.

 

Schreibanlässe

Was Anlass zum Schreiben sein kann: Auch das zeigt uns Dörrie in vielen Facetten: Die Wohnung der Kindheit und das was Angst macht, Lügen und Lieben, Freundschaften und Sucht, Schmuckstücke, Reisen… und wenn gar nichts mehr geht: Einfach über den vergangenen Tag schreiben.

 

Dörrie, die in diesem Jahr 65 Jahre alt geworden ist, blickt auf ein gefülltes Leben zurück, beruflich wie privat. Sie schreibt von sich selbst überrascht darüber, dass sie sich nach dem Tod ihres Mannes noch einmal neu verlieben konnte. Sie schreibt über ihre Liebe zu Japan, über ihr Verhältnis zu religiösen Vollzügen: Sie bringt ihrem Kind das Beten bei, damit das Kind es kann, wenn es das mal brauchen sollte.

 

Schreib!

Auf jedes erzählte Lebensfragment folgt die Anrede an Leserin und Leser: Schreib. Und genau das sollte diesen nicht schwer fallen nach dem eben jeweils Gelesenen. Denn Geschichten evozieren Geschichten. Archäologie im eigenen Leben zu betreiben, das hat natürlich manchmal etwas Narzisstisches, manchmal ist es heillos und bisweilen einfach amüsant. Die Autorin scheut sich nicht, das an sich selbst zu exemplifizieren.

 

Genau das macht das Anregende dieses Buches aus: Wir folgen einem Leben auf seinen verschlungenen Pfaden und werden selbst auf die Verschlingungen unseres Lebens geführt oder führen uns selbst dahin. Und das hat etwas Befreiendes.

 

»Jeder Tag ist ein guter Tag.« Das mag nicht stimmen, wenn man den Tag gerade erlebt. Im Erinnern, das den Tag später ordnet und ihm Sinn zuspricht, sieht das anders aus. So trifft auf das Buch von Dörrie zu, was Sten Nadolny Alexander in »Selim oder die Gabe der Rede« notieren lässt: »Das Erzählen trägt uns wie die See den Seemann. Nicht wird sicherer dadurch. Nur er selbst.«

 

Wer Interesse hat, sein Leben besser zu verstehen und dazu Stift und Papier nutzen mag, braucht dieses Buch, das eben keine Anleitung, sondern eine Einladung ist.

 Michael Krämer

 

Doris Dörrie, Leben Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, Zürich (Diogenes) 2019, € 18,00