Als nun Adam auf dem Felde baute, von dem er genommen war, wurde er traurig, und Eva, voll Mitleid, forschte nach seinem Kummer. Adam sagte: »Siehst du die Cherubim nicht mit ihren hauenden blanken Schwertern, dass sie den Weg uns verwehren zum Baume des Lebens? Siehe, ich lebe und begehre das Leben, aber der Herr hat gesagt, ich bin Erde und soll wieder zur Erde.« Eva wusste Rat:
»Geh und mach ein Zeichen dem Herrn, dass er unseren Wunsch erkenne und erhöre.« Da brach Adam vom Fels einen Stein und beschlug ihn und meißelte Zei­chen seines Wunsches hinein; im Schweiße seines Angesichtes wurde ihm hierfür von oben die Gabe der Schrift verliehen, die er in seiner Not selbst erfunden zu haben glaubte. Adam zeigte Eva den Stein, sie lobte ihn, und Adam schleuderte ihn gegen die Richtung, wo die Cherubim standen. Vom Glanz ihrer Augen und Schwertspitzen wurde Adam geblendet, dass er nicht sah, wo der Stein zu Boden fiel. Auch war ein solches Sausen in der Luft, dass er nicht hörte, wann der Stein sein Ziel erreichte.

 

Wieder war Adam traurig, und wieder sprach Eva ihm zu: »Siehe, du weißt nicht, was mit dem Stein geschehen ist. Fürchte dich nicht, behaue einen neuen Stein, gib ihm das Zeichen unseres Wunsches und schleudere wieder.« Adam tat, wie Eva ihm geheißen. Er tat es noch oft und tat es immer, wenn ihn die Trauer auf seinem Felde verzehrte. So hat Adam, der Legende nach, den Brief erfunden, und der erste Brief war ein versuchter Wurf nach dem verlorenen Paradies.

 

H.G. Adler, Die unsichtbare Wand 1989

 

 

Die Kunstlegende von H.G. Adler, einem jüdischen Autor, der Theresienstadt überlebt und bis zu seinem Lebensende 1988 in London gelebt hat, ist eine von vielen Erzählungen, die von der Erfindung der Schrift berichten. Für die meisten mythisch orientierten Kulturen war klar, dass das Schreiben im Heiligen seinen Ursprung habe. Nur handelt es sich dabei um eine nachgetragene Erklärung. Wir werden darauf zurückkommen.

 

Bevor Menschen zur Schrift fanden, mussten sie jedoch erst einmal zur Sprache finden. Denn Schrift scheint doch irgendetwas mit Sprache zu tun zu haben – jedenfalls heute.

 

Menschenähnliche Wesen bevölkerten Teile Afrikas bereits vor weit mehr als zwei Millionen Jahren. Sie unterschieden sich von den affenähnlichen Wesen durch aufrechten Gang und die zunehmende Unfähigkeit im Wald und auf Bäumen zu leben. Ihre Hände wurden feingliedriger, ihr Kiefer kleiner und die Zähne verkleinerten sich ebenfalls zunehmend. Sie lebten in der Steppe als Sammler, seltener als Jäger, hausten wohl zum Teil in Höhlen. Die Gruppen waren noch überschaubar. Für Kontakte untereinander reichten Berührungen und Gesten. Kommunikation geht auch ohne Sprache. Mimik, Gestik und Ausrufe reichen vielfach aus. Auch Tiere kommunizieren teilweise derart. Damit aus den Menschenähnlichen Menschen werden konnten, bedurfte es eines weiteren Schrittes. Dieser Schritt ergab sich aus zwei Notwendigkeiten:

 

a) Die Menschenähnlichen waren relativ schwache Wesen. Sie verloren zwar zunehmend ihr Fell, wurden also zu Nacktwesen, was für lange Läufe in der Steppe durchaus nützlich war (Transpiration). Aber ihre Hände waren ungeeignet zum Graben, ihre Zähne konnten die großen Markknochen der gefundenen Tiere nicht knacken. Es musste Werkzeug her. Werkzeuge benutzen durchaus auch andere Tiere. Aber sie eignen sich diese nicht an. Seit etwa 2 Millionen Jahre hingegen benutzen Menschen Werkzeuge, die sie nicht einfach nur vom Boden auflesen, sondern offensichtlich mehrfach gebrauchen und mit sich führen. Statt also die Faust zum Hammer werden zu lassen und die Zähne zu schärfen und zu vergrößern, exteriorisieren diese Wesen notwendige Fähigkeiten. Das geht bis heute so: Ochsen- , Esel- und Pferdenutzung ist eine solche Exteriorisierung von Kraft, Öl, Benzin und Elektrizität exteriorisieren Bewegungsenergie und gerade eben versuchen wir unser letztes bewusst genutztes Organ zu exteriorisieren: Das Gehirn – im Zeichen der Digitalisierung.

 

Solche Veräußerlichungen bringen es mit sich, dass der Mensch sich nicht mehr als Teil, sondern zunehmend als Gegenüber seiner Umgebung erfährt, die damit für ihn zur nutzbaren Ressource wird. Das heißt: Es findet eine Differenzierung zwischen Ich und Anders statt. Anders sind in diesem Zusammenhang nicht nur Pflanzen, Tiere und Steine, sondern auch andere Menschen.

 

b) Wo Ich nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil von etwas Ganzem ist, wo sich zudem die Gruppengrößen offensichtlich auf teilweise mehr als 30 Individuen gesteigert haben, braucht es aber eine zunehmenden Vergewisserung der Zusammengehörigkeit. Ab etwa 20 bis 25 Individuen lässt sich eine solche Zusammengehörigkeit nicht mehr rein körperlich über Lausen, Kraulen und Berühren herstellen.

 

Nun gab es offensichtlich bereits über das zeigende Rufen ein Mittel, das auch eine größere Gruppe wahrnehmen kann: »Achtung, ein Leopard« oder »Leise, eine lahme Gazelle« oder auch »Hmm, lecker Früchte«. Anthropologen gehen inzwischen davon aus, dass die Entwicklung der Sprache für den Menschen der Ersatz für das Lausen gewesen sei. So konnte man sich offensichtlich auch eines gegenseitigen Wohlwollens und damit der Gemeinsamkeit versichern. Sprache hat ihre Herkunft also im Miteinander, in der Kommunikation. Das ist ihr bis heute anzumerken. Sie muss eben nicht immer höchsten Sinn transportieren.

 

Allerdings führen solche Entdeckungen Menschen immer auch auf neue und gar nicht vorhergesehene Spuren. Sie nutzen also solche neuen Kulturtechniken nicht eindimensional, sondern es ergeben sich immer neue Nutzungsmöglichkeiten: Die Nutzung eines Choppers, der nicht groß bearbeitet wurde, kann ich durchaus noch gestisch zeigen und rein mimetisch erlernen. Bei einem zweiseitigen Schaber, der hergestellt wird mit etwa fünfzehn bis zwanzig exakten Schlägen pro Seite, der geschärft werden muss, ist das schon nicht mehr der Fall, jedenfalls dann nicht, wenn man Fehlschläge (im wörtlichen Sinne) für die Zukunft vermeiden will. Gleichzeitig muss der Werkzeug erzeugende Mensch aber auch bereits eine Vorstellung davon haben, was aus dem Stück Stein, das er gefunden hat, werden kann und soll. Er muss also perspektivisch in die Zukunft vorgreifen und einen Sinn für Kausalitäten bzw. eine Zweckgerichtetheit entwickeln.

 

Und dann lassen sich mit einer solchen Sprache plötzlich nicht nur Zuneigung und Gemeinsamkeit artikulieren, Hinweise und Anweisungen geben, sondern es lässt sich auch erzählen, wie es dazu kam, dass… Und dieses Erzählen hat den Menschen offensichtlich Spaß gemacht. Jedenfalls haben sie bis heute nicht damit aufgehört. Auch das Erzählen hat ja einen gemeinschaftsstiftenden Charakter: Ich erzähle nur, wenn mir jemand zuhört. Und wer zuhört und die gleichen Geschichten kennt, der gehört dann auch dazu (vgl. etwa die Entstehung neuer Heldenmythen in amerikanischen Ghettokulturen).

 

Niemand weiß, wie lange Menschen die Sprache schon zum Erzählen nutzen. Dass die Neandertaler es taten, ist aufgrund neuerer Entdeckung von Artefakten und der Bestattungskultur der Neandertaler wahrscheinlich. Auch wäre sonst kaum eine genetische Verbindung zum Homo Sapiens zustande gekommen. Dass der Homo Sapiens seit knapp 100.000 Jahren erzählt, ist jedenfalls sicher. Und er erzählt nicht nur, er macht Musik, schafft Kunstwerke, spielt Spiele und wenn sich diese Menschen nicht gerade gegenseitig totschlagen oder die Nahrung rauben, scheint ihr höchstes Bestreben zu sein, sich des Lebens zu freuen und das auch noch möglichst sinnvoll zu finden.

 

Die Menschen konnten also sprechen, erzählen, es wurden Mythen erfunden, Religionen haben sich entwickelt: All das diente der Vergewisserung der eigenen Existenz in einer unsicheren Welt, es trug dazu bei, dass sich größere Gemeinschaften, Kulturen bildeten, gab den Menschen Antwort auf unbeantwortbare Fragen, etwa auf die immer wieder neu gestellte Frage, wozu eigentlich das Leben gut ist und was aus Menschen wird, wenn sie nicht mehr leben. Erzählen nimmt zwar den Tod nicht aus der Welt, aber es schützt z.B. vor der Angst vor den Toten.

 

Das Sprechen und Erzählen förderte das Erinnern, das Erinnern befeuerte Zukunftsvisionen. Und beides, das Erinnern wie die Hoffnung und die Visionen, hat mit realen Fakten nur begrenzt zu tun, sonst wären nicht immer wieder in der Geschichte Überschreitungen des Vorhandenen möglich gewesen.

 

Das alles war keineswegs geplant: Niemand hat seinerzeit, als die Sprache gefunden oder vielleicht auch erfunden wurde, daran gedacht, was daraus werden würde: Dass man Tratsch und Quatsch erzählen würde, dass Paradiesträume entstehen würden und haarsträubende Abenteuergeschichten, dass die Sprache die Erfahrungen der Menschen aufnehmen, sich entsprechend wandeln und dadurch die in diese Sprachgemeinschaft Hineinwachsenden prägen würde.

 

Warum nur wurde dann auch noch die Schrift erfunden? Vermutlich hat auch dabei niemand an die Milliarden Schülerinnen und Schüler gedacht, die sich mit dieser neuen Technik würden plagen müssen. Geschweige denn, dass im Blick gewesen wäre, was die Menschheit sonst noch mit der Schrift anstellen würde (Relativitätstheorie, Ulysses).

 

Die meisten Menschen heute gehen davon aus, dass Schrift immer etwas mit Sprache, genauer: mit gesprochener Sprache zu tun hat. Das gilt zumindest für die Menschen der westlichen Kulturkreise.

 

Das stimmt allerdings für die Ursprünge offensichtlich nicht. Der Ursprung der Schrift hat, nach allem, was wir heute wissen können, mehrere Voraussetzungen und mindestens zwei Gründe.

 

a) Voraussetzung für die Erfindung der Schrift war beispielsweise, dass Menschen feinmotorisch in der Lage waren, kleine Zeichen herzustellen und diese als unterschiedliche wahrzunehmen. Dass dies der Fall war, zeigt sich bereits in den letzten 40.000 Jahren der Kunsterzeugung. Striche, Kennzeichnungen unbekannter Bedeutung, Bildzeichen etc. waren vielfältig verbreitet, ebenso kleine Idole aus Stein oder Ton. Beides wurde hergestellt und wahrgenommen. Denn nur wenn sie wahrgenommen werden, sind derlei Zeichen dauerhaft sinnvoll.
Zudem musste es Menschen geben, die einen Bedarf hatten für derlei Aufzeichnungen. Und schließlich brauchte es eine Verständigung auf die Bedeutung bestimmter Zeichen oder Piktogramme. All das war tatsächlich gegeben. Striche dienten offensichtlich schon länger nicht nur der Verzierung, sondern auch als Zeichen für eine bestimmte Anzahl. Es gab auch Symbole für Korb, Flüssigkeitsbehälter usw. Und der Bedarf nach derlei Fixierung kam langsam auf mit wachsendem Handel zwischen Stämmen und Kulturen.

 

b) Der Grund schließlich für die Umsetzung von Schrift war ein doppelter: Die beginnende Urbanisierung, der damit eingehende Handel und die beginnende Arbeitsteilung zum einen und zum andern die Entstehung eines priesterlichen Beamtenapparates, der für Verwaltung und Verteilung zuständig war. Entsprechend sind auch die Orte klar, an denen Schrift zuerst benutzt wurde: Etwa gleichzeitig im ägyptischen Nil-Bereich und im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, später dann auch im Industal. Für Ägypten und Mesopotamien wird die Zeit der Schriftentstehung auf etwa 3.200 a. Chr. nachgewiesen, für das Industal etwa 500 Jahre später, aber offensichtlich unabhängig davon. Und China hat noch einmal einen eigenen Ursprung seiner Schrift, die sich bis heute in der Bewahrung dieser Schrift niederschlägt. Über die Schriften des Industals lässt sich ebenso wie über die zypriotische Schrift oder das Linear A der Minoer wenig sagen, sie sind bisher nicht entziffert (wie auch die etruskische viel spätere Schrift unverstanden ist).

 

Schon vor dieser Zeit der Listenschriften in Mesopotamien (Sumer, Akkad) und in Ägypten gab es Vorformen. Und das sind exakt diese Tonmarken, die beispielsweise Handelskarawanen (Esel und Ochsen, keine Pferde und keine Kamele) als Inhaltsnachweis der beförderten Waren mitgegeben wurden. Man stelle sich 20 stilisierte Mini-Schafe vor, die aus Ton hergestellt in einem Tonbehälter verschlossen als Liste des mittransportierten Viehs mitgegeben wurde. Es ging auch abstrakter: Kleine pyramidenartigen Tonmarken galten als Symbol für Körbe, andere runde je nach Größe und Ausführung für unterschiedlich große Symbole standen für Flüssigkeitsbehälter mit Bier, Wein o.ä. Die Anzahl der Symbole symbolisierte wiederum die Menge der mitgeführten Waren.

 

Auch diese Tonmarken wurden in Tonumschläge verpackt; man ging allerdings zunehmend dazu über, als weiteres Sicherheitsmerkmal, den dreidimensionalen Inhalt der Umschläge als Ritzzeichnung auf dem Umschlag zu vermerken, bis man irgendwann der zweidimensionalen Ritzzeichnung genauso viel vertraute wie den dreidimensionalen Symbolen. Damit war die erste Transportliste geboren.

 

Die chinesische Schrift hat einen ganz anderen Hintergrund: Ähnlich wie auch im eurasischen Teil der Welt wurden in China auf beispielsweise Knochen geritzte Zeichen als Orakelmittel benutzt. Und umgekehrt versuchte man die in den Geweihen und Knochen vorkommenden Risse als bedeutungstragende Zeichen zu lesen und schwärzte sie entsprechend ein. Aus diesen Orakelzeichen entwickelte sich die chinesische Schrift, die allerdings auch vor allem eine heilige Schrift und später eine Verwaltungsschrift war. Chinesische Worte sind meist einsilbig und kennen weder Deklination noch Konjugation. Insofern gab es teilweise für jeden Gegenstand, der benennbar war, auch ein eigenes Zeichen, insgesamt etwa 80.000. Noch heute gelten 1000 Zeichen als Minimum, als einigermaßen gebildet gilt man, wenn man etwa 5000 der gängigsten Zeichen beherrscht. Als aus dem Heiligen stammende Schrift änderte sich die chinesische Schrift nur wenig, als mehr an den Dingen hängende (parallel zur Sprache) als an der Sprache, ließ sie sich auch auf ganz unterschiedliche Dialekt- und Sprachkulturen übertragen japanisch, koreanisch, vietnamesisch). Sie sah ziemlich gleich aus, wurde aber jeweils unterschiedlich gelesen, bedeutete jedoch das Gleiche.
Diese Schriftentwicklung ist also einen ganz anderen Weg gegangen, als die Schriftentwicklung im mesopotamisch-ägyptisch-kleinasiatischen Teil, die für unsere Schriften von Bedeutung sind.

 

In der Zeit zwischen etwa 3000 bis 2000  vor Chr. sind vor allem drei Schriften von Bedeutung, die sich übrigens bis in die Zeiten der römischen Kaiserzeit fortschreiben:

 

a) die sog. Keilschrift aus Mesopotamien, von den Sumerern entwickelt, von Akkad und Babylon sowie später Elam und Persien und den Hethitern übernommen

 

b) die Hieroglyphen-Schrift als Repräsentanz-Schrift der ägyptischen Könige

 

c) die mit der Hieroglyphenschrift in Verbindung stehende hieratische Schrift für Verwaltungs- und Kultzwecke

 

Daneben und unentziffert gab es die kretische Linear A Schrift, die eine vermutlich vorindogermanische Sprache aufzeichnet und verwandt ist mit Zeichen die im alteuropäischen Raum vor der indogermanischen Einwanderung genutzt wurden (also etwa ab 8000) vor allem offensichtlich für Kult- oder Orakel-Zwecke. Auch in Kreta gab es die Doppelung zwischen hieroglyphischer und hieratischer Schrift. Hieroglyphisch wurde dort ebenfalls für kultische Zwecke benutzt. Und wenn Linear B sich aus Linear A ableitet und eine Übertragung auf die indogermanisch frühgriechische Sprache der Mykener darstellt, dann wäre diese Schrift ebenfalls eine Verwaltungsschrift gewesen.

 

Festzuhalten bleibt, dass die alten Schriften Mesopotamiens, Ägyptens und Kretas zuerst und über fast 800 Jahre der Verwaltung und Buchhaltung dienten, auch der Buchhaltung des Heiligen (Götter- und Tempelversorgung).

 

Es waren allesamt Schriften, die von Priestern/Verwaltungsbeamten geschrieben wurden. In alten Zeiten war das identisch (heute teilweise inzwischen auch wieder).

 

Nur wie schon bei der Entdeckung der Sprache und ihrer Weiterentwicklung ging es dann in ganz andere Richtungen weiter. Was als Bierrechung begann oder als Rezept für die Ölherstellung, als Liste zustehender Zuwendungen usw., bekam plötzlich weitere Aufgaben und entwickelte weitere Möglichkeiten: In der Keilschrift wurde das erste bekannte Großepos, das Gilgamesch-Epos, aufgezeichnet. Und aus den kultischen Darstellungen Ägyptens lassen sich immer mehr Geschichten herauslesen. Gleichzeitig begannen die Lesekundigen in Mesopotamien wie in Ägypten sich Gedanken über die Welt zu machen, über die Gestirne und deren Zusammenhang mit den Menschen auf der Erde etwa, über Landwirtschaft und deren göttliche Bestimmung usw.

 

Und es ging weiter mit der Schrift: Von Pikogramm ähnlichen Zeichen abstrahierte sich diese Schrift immer weiter. Das heißt, die Schrift betraf nicht mehr die Dinge, sondern die Sprache. Da die Namen der Dinge immer mit einer Silbe beginnen, begann man, die Silbe von den Dingen zu lösen und für sich zu nehmen.

 

Inzwischen kommen wir im Messagingbereich dieser Art des Schreibens wieder nahe: URYY4me steht für Englisch: You are too wise for me (YY=two yy=too wise). Das war und ist nicht immer ganz eindeutig und verständlich, aber doch eine große Hilfe beim Aufzeichnen von Sprache. Und so setzte sich gerade die sog. Keilschrift, die einfach dadurch entsteht, dass man einen dreieckigen Griffel (nicht wie vielfach behauptet, immer ein Schilfrohr) in Ton drückt und zieht, zu einer auch diplomatischen Allgemeinschrift der 2. Und 3. Jahrtausends v. Chr. Die sog. Amarna-Briefe machen das deutlich, die in Ägypten gefunden wurden und in denen vor allem die Pharaonen (nie so genannt, sondern als Könige angesprochen) von den Herrschern der benachbarten Reiche Nachrichten bekommen haben

 

Fast unbemerkt und doch im Zusammenhang mit dieser Schrift wurde die phonetische Information, die in Zeichen steckt, immer weiter auf den einzelnen Laut herabgebrochen: Bereits im 2. Jahrtausend tauchen in Kleinasien die ersten Zeichen auf, die offensichtlich nicht mehr Silben, sondern nur noch Laute bezeichnen, Konsonanten; denn davon leben die semitischen Sprachen bis heute.

 

Und dann gab es, zumindest für die europäisch-kleinasiatische Geschichte einen Bruch. Es waren die heute oft sogenannten dunklen Jahrhunderte zwischen 1200 und 1000 vor Chr. etwa. Es wäre spannend, dazu mehr zu berichten; dafür ist hier leider nicht der Ort. Jedenfalls gab es offensichtlich eine Einwanderung fremder Stämme in den Mittelmeerraum. Und dem dadurch entstehenden Chaos schlossen sich die zu kurz gekommenen Sklaven und Bauern der Palastkulturen an. Troja (hethitisch) Mykene, Tiryns usw. wurden zerstört, auch die Städte Kanaans gingen unter; stattdessen siedelten sich dort die indogermanischen Philister an. Und in Kreta endete die letzte Palastphase, die längst nicht mehr minoisch, sondern mykenisch bestimmt war.

 

Menschen verließen die städtischen Umgebungen und verzogen sich aufs Land. Das Leben ging weiter. Allerdings auf einer kulturell anderen Stufe. In dieser Zeit gewannen die Phönizier das Handelsmonopol für das Mittelmeer. Ihre Städte waren wegen ihrer Lage weitgehend verschon geblieben. Und sie konnten weiterhin – wenigstens in geringem Umfang – mit ihren Schiffen Handelsgüter aus Syrien und Mesopotamien über das Mittelmeer vertreiben – nach Nordafrika, Spanien und natürlich nach Sizilien und Italien.

 

Um 800 vor Chr. kamen zwar nicht die Mykener, sondern die Griechen langsam wieder an die Küsten zurück. Die Bevölkerung hatte sich erholt, Und man ging auf große Fahrt. Die sog. Irrfahrten des Odysseus erzählen davon (Odyssee). Nur wenn nun plötzlich neue Kolonien (z.B. Syrakus, Sizilien) errichtet werden sollten, die aber doch griechisch blieben, wenn Handel auch von den Griechen gestaltet werden sollte, dann tauchte wieder die Frage der Schrift auf.

 

Die Phönizier hatten eine Schrift, die relativ einfach war, 22 Buchstaben. Das konnte man lernen. Das konnte sogar ein Schiffskapitän lernen. Es gab jedenfalls keine 5000 Zeichen mehr, wie in der Keilschrift und in der hieratischen Schrift Ägyptens.

 

Die Griechen, die niemals einen eigenen Staat hatten, sondern verteilt waren in Ortschaften, später Städten, die sich dennoch als Griechen verstanden aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache und er verbindenden Erzählungen (Homer), waren immer schon gut in der Übernahme fremder Kulturtechniken und -güter. Das hat sich bis in klassische Zeiten so gehalten. Sie haben aufgenommen und neugestaltet. Und so ging es auch mit der Schrift.

 

Diese Griechen übernahmen die phönizische Schrift. Da das Phönizische aber wie das Hebräische oder Aramäische und das heutige Arabisch eine semitische Sprache ist, kam es dort auf Vokale nicht so an. Stattdessen gab es Rachen- und Zischlaute, die den Griechen ohnehin schwerfielen. Das Griechische, als eine indogermanische Sprache, lebte hingegen von vielen Vokalen. Also nutzte man ungebrauchte Zeichen einfach für Vokale und ein paar musste man (auch aus anderen Schriften) dazu nehmen. (A, E, O, – und diese auch noch in unterschiedlichen Längen).

 

Am Ende stand die griechische Schrift. Nicht die, die wir heute kennen, sondern eine Schrift, die ohne Punkt und Komma von rechts nach links und von links nach rechts geschrieben wurde (Bustrophedon – wie der Ochse so pflügt). Auch die einzelnen Buchstaben veränderten sich, mal wurden sie quergelegt, mal schrieb man sie aufrecht. Jeder Schüler wäre dankbar, wenn er heute so schreiben dürfte.

 

Und diese Schrift machte Karriere: Sie wanderte zu den Etruskern und über die Etrusker zu den Latinern. Die Römer benutzten sie also auch. Mit Alexander kam diese Schrift bis nach Indien. Und mit den Römern bis nach Gallien, Germanien und schließlich auch in die neue Welt. Sie veränderte sich dabei, weil es jeweils neue Anpassungen an die unterschiedlichen Sprachen gab. Schon früh wurde ein U hinzugefügt, im Deutschen später die Umlaute ä, ö, ü. Die Groß- und Kleinschreibung wurde schon in Alexandria praktiziert. Im Reich Karls des Großen wurden Minuskeln (Kleinbuchstaben) der besseren Lesbarkeit wegen erfunden. Das Alphabet verließ die Menschen Europas nicht mehr, auch wenn es sich über Jahrhunderte in die Skriptorien der Klöster und zunehmend dann in die Verwaltungen der Höfe sich zurückzog.

 

Nur der Name Alphabet erinnert immer noch an die Herkunft aus den semitischen Sprachen und aus der ursprünglich vielleicht silbischen Aufzeichnung: Aleph -Bait, die ersten beiden Buchstaben haben die Bedeutung »Rind« und »Haus«.

 

Und wie bzw. worauf wurde damals geschrieben? Auf alles, was irgendwie beschreibbar war: Auf Vasen und Scherben, auf Ton und Papyrus, vor allem aber auf den Tabs der damaligen Zeit: Auf Wachstafeln, die immer wieder neu glattgestrichen und wiederbeschrieben werden konnten. Wichtiges wurde auf Pergament festgehalten oder gleich in Stein gemeißelt, und schon in römischen Zeiten stieg man von der Schriftrolle auf den Kodex um, der leichter handhabbar war.

 

Noch unser heutiges Wort Scherbengericht leitet sich von dort ab: Man benutzte das »ostrakon«, die Scherbe als »Schmierzettel« und auch für gerichtliche für Abstimmungen in Athen.

 

In all diesen Zeiten wurde bis auf Rollsiegelabdrucke (und Siegel) alles mit der Hand aufgezeichnet. Einen Umschwung gab es erst im 15. Jahrhundert mit der Erfindung des Buchdrucks. Und wie alles, was mit Sprache zu tun hat, hatte auch dies unabsehbaren Folgen. Es wurde immer mehr geschrieben, später auch gedruckt. Es bedurfte eines Technologie-Diebstahls, damit das Lesebedürfnis Europas erfüllt werden konnte: Von den Chinesen, die ihr Papiermonopol wohl gern noch etwas behalten hätten, »übernahm« man die Papierproduktion als Technologie. Und damit waren die Schleusen für alles Mögliche Geschriebene unschließbar geöffnet. Eine Flut von mehr oder minder sinnvollen Texten ergießt sich seitdem über die Welt. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Zusammenfassung:

 

Verstärkt am dem 3. Vorchristlichen Jahrtausend haben sich parallel an unterschiedlichen Stellen der Welt Schriftsysteme entwickelt.

 

Der größere Teil der Schriftsysteme bezog sich auf Wörter, später auf Silben. Alphabetische Schriften sind ansatzweise (z.B. aus Uruk) bereit ab ca. 1500 vorhanden. Die eigentliche »diplomatische« Schrift bleibt aber die Keilschrift.

 

Nach einem Kulturbruch im Mittelmeer-Raum (Untergang der Palastkulturen) wird die alphabetische Schrift der Phönizier zum Ausgangspunkt aller alphabetischen Schriften im gesamten Mittelmeerraum und später in ganz Europa und damit auch in der sog. Neuen Welt.

 

Diese Schrift begann sich in allen Schichten zu verbreiten und ermöglichte damit die Literalisierung der entsprechenden Kulturen Griechenlands, Roms usw.

 

Literalisierung ist mehr als Alphabetisierung: Sie beschreibt neben dem reinen Schrifterwerb auch eine neue Form philosophischen, naturwissenschaftlichen, also forschenden Denkens.